Kurmes Dernegi Resmi Web Sitesi

Das verdrängte Massaker von Dersim 1937/1938-Serdan BER

Mit diesem Artikel möchte ich das von der Weltöffentlichkeit verdrängte Dersim-Massaker in Erinnerung rufen, das als Vernichtungsaktion immer noch seinesgleichen sucht. Somit möchte ich der Opfer dieser Vernichtungsaktion gedenken und über das Gebiet Dersim und seine Geschichte informieren. Die Erinnerung an das Dersim-Massaker in Dersim ist wichtig, um Opfern der Türkischen Homogenisierungspolitik zu ehren und um auf die Weise auf die bis heute fortwährende Unterdrückungs- und Diskriminierungspolitik der Minderheiten in der Türkei aufmerksam zu machen.

Während die Weltöffentlichkeit in den Jahren 1936 und 1939 gebannt auf den Bürgerkrieg in Spanien, die Invasion des faschistischen Italien in Äthiopien und den chinesisch-japanischen Krieg schaute, interessierte niemanden, was damals im fernen Anatolien geschah. Die internationale Presse übernahm die Türkische Propaganda und verkündete, dass es sich bei dem Widerstand des Volkes von Dersim um eine Rebellion gegen Modernisierung, Reform und Bildung handle. Es ist bis heute kaum international bekannt, dass zeitgleich das Türkische Militär im Osten Anatoliens eine radikale Vernichtungsaktion gegen die kurdischen Aleviten in Dersim durchführte.

Bis zur Gründung der Türkischen Republik (1923) wurde Dersim bereits mehrfach zuvor aufgrund seines autonomen Status und alevitischen Glaubens von sunnitischen Osmanen angegriffen. Vor allem mit dem Sieg über die Safaviden in der Schlacht von Tsachldiran (1514) verfolgten die Osmanen danach eine unerbittliche Sunnitisierungspolitik, die bis zum Zerfall des Reiches andauerte. Dem religiösen Sunnitisierungsmotiv folgend wurde in den Jahren 1915 bis 1917 der Völkermord an Armeniern und Aramäern begangen. Das Osmanische Reich ging mit aller Härte gegen alle ethnischen und religiösen Gruppen vor, die nicht in das vorhergesehene Osmanische Muster hineinpassten. Nach der Eroberung von Istanbul und mit dem Sieg über die Safaviden erklärte das Osmanische Reich von damals an Dersim als Territorium des Osmanischen Reiches. Faktisch hatte Dersim jedoch aufgrund seiner recht unzugänglichen Bergregion ihre Lebenskultur erhalten und ausgeprägt, die eine Mischung aus altiranischen, altanatolischen, alttestamentarischen, christlichen und islamischen Elementen darstellte. Dersim war die einzige Oase in der islamischen Welt, die sich weigerte, sich an den Völkermord an Armenier und Aramäern beteiligen. Dersim hat sich nicht nur geweigert, gegen die Armenier zu kämpfen, sondern hatte die Armenier gegen die Angriffe des Osmanischen Regimes geschützt. Daraufhin entwickelten die Osmanischen Herren gegen Ende des 19. Jh. Pläne, wie Dersim zu erobern wäre.

a) Dersim sollte angegriffen werden.
b) Das islamische Recht, die Scharia sollte als Rechtssystem eingeführt werden.
c) Das Türkische Schulsystem sollte eingeführt werden.
d) Diejenigen, die sich wehrten, sollten deportiert werden.

Aufgrund von geographischen Gegebenheiten und aus soziopolitischen Gründen gelang es jedoch dem Osmanischen Reich zu keiner Zeit eine absolute Macht und Herrschaft über Dersim auszuüben, so dass Dersim bis zum Zerfall des Osmanischen Reiches seinen autonomen Status faktisch immer bewahren konnte. Durch geschicktes Taktieren und Appellieren an die religiösen Empfindungen der Kurden sicherte sich Mustafa Kemal die Unterstützung der kurdischen Stammesführer und Scheichs. Mit der Ausrufung der Türkischen Republik am 29.Oktober 1923 wurde Atatürk einstimmig zum Staatspräsidenten gewählt. Die Kurden kämpften erfolgreich auf Seiten der Türken gegen die Besatzungsmächte im nationalen Befreiungskampf (1919 – 1923). Mit dem Sieg über die Besatzungsmächte wurden die Bestimmungen von Sèvres mit dem Vertrag von Lausanne (1923) revidiert. Die Autonomiezugeständnisse an die Kurden und anderen Minderheitsgruppen fielen damit weg, die später Widerstandsbewegungen nach sich gezogen haben. Die Reformen von Atatürk mit Laizismus und Säkularisierung stießen inbesondere bei den durch feudale Strukturen religiös geprägten Kurden auf Widerstand, die sich ihren Autonomierechten beraubt sahen. Zwischen den Jahren 1925–1938 brachen ca. 20 Aufstände auf. Nach der Niederschlagung des Seyh Said Aufstandes 1925 in mehreren Regionen und der damit errungenen Kontrolle über weite Teile Anatoliens, war vor allem Dersim immer noch nicht beruhigt. Die dortige Kraft war noch nicht zerschlagen. Auch ein Vernichtungskrieg gegen die Bewohner des Südens von Dersim 1926 brachte nur einen sehr begrenzten Erfolg. 1930 wurden etwa 10.000 Menschen aus Nord-Dersim (Pilemori und Erzingan) in westliche Gebiete der Türkei deportiert. Ziel dieser Aktionen war es, Dersim Schritt für Schritt zu schwächen. Da die Angst vor einer direkten Auseinandersetzung mit Dersim damals sehr groß war, wurde ein lang ausgedachter Plan gegen Dersim erarbeitet, der 1935 konkretisiert wurde. Im Jahre 1934 hatte das Türkische Parlament bereits das „Zwangsevakuierungsgesetz“ beschlossen, wonach im Jahre 1935 mit den „Tunceli-Gesetzen“ (Tunceli Kanunlari) der rechtliche Rahmen für den Operationsnamen „Züchtigung und Deportation“ (tedip ve tenkil) gegeben wurde. Nach jahrelanger Defacto-Souveränität unter Osmanischer Herrschaft sollte Dersim nun in die Türkische Republik eingegliedert werden.

Das Prinzip des Nationalismus der jungen nationalen Türkei Atatürks besagte: ”Alle, die in der Türkei leben, sind Türken.” Den ersten Start zum Dersim-Genozid hatte der Vater der Republik Mustafa Kemal Atatürk in seiner Parlamentseröffnungsrede im Jahre 1936 proklamiert und sagte:

„Wenn es etwas Wichtiges in unseren inneren Angelegenheiten gibt, dann ist es nur die Dersim-Angelegenheit. Um diese Narbe, diesen furchtbaren Eiter in unserem Inneren, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen, egal was es koste, und die Regierung muss mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie dringend erforderliche Entscheidungen treffen kann.“

Dersim forderte die sofortige Zurückziehung aller Türkischen Verwaltungsbehörden und die Anerkennung der Selbstverwaltung in Dersim. Die Stammesführer in Dersim unter der Führung von Seyid Riza forderten die sofortige Abschaffung der "Tunceli-Gesetze" und eine Verwaltungsreform, die ihnen Autonomierechte gewährte. Die Regelung des Umsiedlungs-gesetzes und die zunehmende militärische Präsenz wurde als Angriff auf ihre Defacto-Souveränität. Gouverneur Alpdogan lehnte ab und forderte erneut die Herausgabe aller Waffen. Der Kampf begann, nachdem ein paar Polizisten, die nach Waffen suchten, von den aufgebrachten Dorfbewohnern umgebracht worden waren. Vorausgegangen waren einige Vorfälle von Gewalt gegen Dorfbewohner, Fälle von Vergewaltigung durch Türkische Soldaten und von Tötung Türkischer Soldaten. Es gelang den Kämpfern, die Soldaten zunächst zu vertreiben und die Herrschaft in den ländlichen Gebieten der gesamten Region Dersim zu übernehmen. Die Stämme brannten Polizeistation und Holzbrücken nieder und zerstörten Telefonleitungen.
Die Ereignisse eskalierten im Sommer 1937. Die Stammes-Kämpfer überfielen Kasernen und Wachen und versuchten, Brücken in Mazgirt und Pertek zu sprengen. Zugleich drangen Türkische Bodentruppen in das Gebiet ein, brannten Dörfer nieder und ermordeten Zehntausende von Zivilisten - Männer, Frauen und Kinder. Auf Beschluss der Türkischen Regierung wurden die Kämpfe in Dersim durch Bombardements der Türkischen Luftwaffe intensiviert, der auch Kemal Atatürks Adoptivtochter Sabiha Gökcen als Bomberpilotin angehörte. Als die Luftwaffe anfing, Dörfer zu bombardieren entsandte Seyit Rıza eine Delegation zu Verhandlungen zum Türkischen Hauptquartier in Elazig. Auch Bre İbrahim, ein Sohn Seyit Rızas, ging zu Verhandlungen ins Türkische Hauptquartier und wurde auf dem Rückweg von Mitgliedern des verfeindeten Kirgan-Stammes getötet.
Aufstellungen des Türkischen Generalstabs und Augenzeugenberichte von beteiligten Soldaten und Opfern bestätigen die Gewalt- und Greueltaten und Massaker an Stammes-Kämpfern und Zivilisten. Die 80-jährige Menez Akkaya, die den Völkermord überlebt hat, sagte in einem Interview über die Einsammlung der Waffen:


”Ich war damals ein junges Mädchen. Die Soldaten kamen einige Male in unser Dorf und gingen wieder. Sie taten uns nichts. Wir haben sie nicht verstanden, weil wir kein Türkisch konnten. Später kamen sie noch einmal. Sie versammelten die Dorfbewohner. Es waren etwa 200 bis 300 Alte, Frauen und Kinder. Sie brachten uns in das Degirmen Tas Gebiet. Sie sagten, dass sie unsere Waffen haben wollten. Wenn sie sie hätten, würden sie uns freilassen. Sie brachten uns an das Bett des Flußes und töteten uns. Sie töteten auch meinen Mann. Nur wir, drei Personen, überlebten. (...) Wir blieben tagelang ohne Essen und Trinken unter den Leichen. Es war mit uns so, dass wir keine Angst hatten. In Kiran überredeten Türkische Soldaten etwa 400 Familien und versicherten, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn sie sich ergäben. Die Türkischen Soldaten ließen dann die Bewohner auf Dorfplätzen antreten. Die Männer wurden standrechtlich erschossen. Frauen und Kinder wurden in Scheunen gesperrt und lebendig verbrannt.”

Mehrmalige Aufrufe der Widerstandsführer an die Weltorganisationen waren erfolglos. Der Völkerbund wurde über die Vorfälle in Dersim u. a. durch das Schreiben von Nuri Dersimi in Kenntnis gesetzt, der von seinem syrischen Asyl aus einen zweiseitigen französischen Brief an den Völkerbund in Genf richtete. Er unterzeichnete den Brief mit „Seyid Rıza“. Der Appell stieß aber auf taube Ohren. Der Völkerbund betrachtete die Ereignisse als innere Angelegenheit der Türkei, da eine muslimische Minderheit betroffen war und dies die Minderheitenklauseln des Lausanner Vertrags nicht berührte. Im September wurde Rızas Lage aussichtslos. Seine zweite Frau Bese, ein weiterer Sohn sowie eine große Anzahl von Bewohnern seines Dorfes wurden von Soldaten getötet. Daraufhin schlug Seyid Riza offenbar auch auf Druck seines eigenen Stammes hin den Türkischen Behörden wieder Neuverhandlungen vor, die vom Türkischen Staat angenommen wurden. Als Widerstands-Führer wurde er zu Verhandlungen nach Erzincan eingeladen, wobei man ihm zusicherte, die Forderungen der Bevölkerung zu akzeptieren und der Türkischen Armee den Befehl zur Feuereinstellung zu geben. Als er aber in Erzincan eintraf, wurden er und seine Begleiter am 5. September festgenommen und am 18. November 1937 mit zehn seiner Gefolgsleuten (darunter zwei seiner Söhne) in Elazig hingerichtet. Der Mann, der das Gerichtsverfahren als junger Beamter organisierte und später Außenminister (İhsan Sabri Çağlayangil) werden sollte, schilderte die Hinrichtung von Seyid Riza in seinen Memoiren mit folgenden Worten:
„Als Seyit Rıza die Galgen sah, verstand er. „Ihr werdet mich hängen‘, sagte er, und drehte sich zu mir um. ‚Bist du aus Ankara gekommen, um mich zu hängen?‘ Wir schauten uns an. Zum ersten Mal stand ich einem Menschen, der hingerichtet werden sollte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er lachte. Der Staatsanwalt fragte, ob er beten wolle. Er lehnte ab. Wir fragten nach seinen letzten Worten. ‚Ich habe noch vierzig Lira und eine Uhr, gebt die meinem Sohn‘, sagte er. Seyit Rıza sprach in die Stille und Leere, als ob der Platz voller Menschen sei. ‚Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist eine Grausamkeit. Es ist Mord.‘, sagte er. Er lief mit gleichmäßigen, scharfen Schritten dem Zigeuner entgegen und schubste ihn. Er legte sich den Strick um, trat den Stuhl weg und vollstreckte sein eigenes Urteil.



Nach der Hinrichtung von Seyid Riza und seiner Gefolgsleute wurden die Leichen zur Schau durch die Stadt gefahren und schließlich verbrannt. Nichts sollte von dem Führer des Aufstandes übrig bleiben. Auch nach der Ermordung Seyid Rizas ging der Widerstand der Bevölkerung jedoch weiter. Ohne Führung konnten jedoch die Türkischen Truppen unter Einsatz der Luftwaffe gegen einen nicht koordinierten Widerstand vorgehen und Dersim vollständig zerstören. Von November 1937 bis zum März 1938 ruhten die Feindseligkeiten und Kämpfe bedingt durch einen sehr strengen Winter. Im Frühling 1938 nahm die Armee ihre Operationen mit großer Härte wieder auf.

1938 erreichte der Genozid seinen Höhepunkt. Die Türkische Armee setzte über 50.000 Mann in Dersim ein, um den Aufstand niederzuwerfen. Viele Menschen flüchteten in die hohen Berge und Höhlen. Manche Höhlen wurden zugemauert. Gruppen, die sich in Höhlen verstecken, wurden ausgeräuchert oder verbrannt. Fliehende Menschen warfen sich in tiefe Täler, um nicht gefangen genommen zu werden. Zahlreiche Menschen wurden bei lebendigem Leibe begraben. Ort für Ort, Tal für Tal wurde die gebirgige Region erobert. Nach wenigen Monaten war der Aufstand niedergeschlagen und das schwer zugängliche Territorium schließlich von der Türkischen Armee unter General Abdullah Alpdogan erobert. Auch die Bevölkerungsteile, die sich nicht an dem Aufstand beteiligt und an die Türkischen Versprechungen geglaubt hatten, ihnen würde deswegen nichts geschehen, blieben nicht verschont. Selbst diejenigen, die zu einer "Übersiedlung" in den Westen Anatoliens bereit waren - vielen Menschen hatte man dort große Häuser und Reichtum versprochen -, wurden Opfer des brutalen Vorgehens. Über 70.000 Menschen waren in Dersim getötet. Nach der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes wurden bis zu 50.000 Menschen deportiert. Dafür wurden eigens Auffanglager eingerichtet. Nach 1938 lag eine Friedhofsruhe über Dersim, und wegen der Aufstände war es allen Journalisten verboten nach Dersim zu kommen. Diese fehlten damals, um der Welt von dem „Krieg gegen Männer, Frauen und Kinder“, von der Zerstörung ganzer Ortschaften und der Deportation ihrer Einwohner zu berichten.
Nach dieser - wie es im Türkischen Jargon euphemistisch hieß - "Säuberung" wurde die Provinz umbenannt. Die Provinzhauptstadt Hozat wurde durch Tunceli (Stadt) ersetzt. Tunceli wurde in einer leicht zugänglichen Gegend gegründet. Dahinter lag auch die Überlegung, die Stadt im Falle eines erneuten Aufstandes mit der Armee schneller zu erreichen. Gleichzeitig wurde der kurdische Name Dersim (Silbertor) durch das Türkische Tunceli (Eiserne Hand) ersetzt. Die alten Namen der Dörfer und Städte wurden durch Türkische Namen ersetzt. Die Schulkinder mussten vor dem Beginn des Unterrichts im Chor in Türkisch singen, dass sie auf das Türkentum stolz seien. Auch Moscheen wurden gebaut, obwohl die Einheimischen sich damit nicht identifizieren. Überall wurden Militärkasernen, Gendarmarie- und Polizeiwachen gebaut. Das Umsiedlungsgesetz, die Reformmaßnahmen und die militärische Kampagne waren Teil der Türkisierungs- bzw. Sunnitisierungspolitik und richteten sich primär gegen die politische Weltansschauung, Sprache Kultur sowie gegen die Zugehörigkeit der alevitischen Lebensgemeinschaft. Eine Amnestie für Bewohner, die sich in die Berge geflüchtet hatten, wurde erst 1946 erlassen. Der Ausnahmezustand wurde 1948 aufgehoben. Erst danach wurde der Zutritt zur Region wieder ermöglicht. In den Jahren danach sind aus politischen, kulturellen bzw. wirtschaftlichen Motiven viele Menschen aus der Region geflohen. Zuerst in die westanatolischen Städte danach nach Istanbul und später ins Ausland.

Liebe Leserinnen und Leser!
Sprechen wir es klar und unmissverständlich aus: Die Türkischen Truppen haben in den Jahren 1937/1938 in Dersim einen Völkermord begangen. Die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes gilt nach dem Genozid an Armeniern und Aramäern durch die Osmanen im Osmanischen Reich als eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Republik Türkei. Der Dersim-Genozid wurde Schritt für Schritt exemplarisch nach Plan vorbereitet und durchgeführt. Als Genozid wird heutzutage die Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern einer Gruppe von Menschen angesehen. In der Konvention vom Völkerbund bedeutet Völkermord eine der Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören. Zu einem Massaker gehört nicht nur Auslöschung und Zerstörung der materiellen Existenzgrundlage: auch Assimilation, Verleugnung, das Verbot, die eigene Sprache zu sprechen und die Zerstörung symbolischer Werte sowie die Vertreibung. Die Vertreibung zielt dabei nicht nur allein auf die physische Vernichtung der Opfer ab, sondern richtet sich gegen die Existenz der Gemeinschaft in Gegenwart und Zukunft. Es gibt heute keinen Dersimer, der heute nicht persönlich von der Zwangsevakuierung, Verbrennung der Dörfer, von Tod oder Mord betroffen bzw. traumatisiert ist. Dieses Massaker hinterließ bei den Menschen aus Dersim bis heute sehr einschneidende, deutliche Spuren. Dabei ist dieses Gemetzel nie in das Bewusstsein Europas und der Welt gedrungen. Erst im letzten Jahr gab anlässlich des Gedenkens in Brüssel – mit internationaler Beteiligung - eine Andenkensveranstaltung. Weiter sollten unbedingt noch folgen.

Bis heute setzt die Türkei ihre von der nationalen Vision des Kemalismus getrieben mit ihrem radikalen Einheitsgedanken ihre Politik der Diskriminierung und Benachteiligung von kulturell unterschiedlichen Minderheitsgruppen fort. Eine Entschuldigung für diesen Völkermord und den Pogrommen bzw. Massakern gegenüber Andersdenken ist immer noch nicht gegeben. Im Gegenteil: Sowohl die kulturelle Zerstörung des Lebensraumes in Dersim als auch die Leugnung der in Dersim lebenden Kurden, Zazas bzw. Aleviten wird heute noch forgesetzt. Im letzten Schachzug soll der Lebensraum in Dersim mit dem Bau von insgesamt acht Staudämmen auf dem Fluss Munzur erloschen werden. Die Staudämme sollen auf einem Gebiet errichtet werden, welches 1971 international als Nationalpark unter Schutz gestellt wurde. Viele von uns wissen, dass der Fluss Munzur und sein Tal ebenso wie die Berge für die Bevölkerung von Dersim eine mystische bis hin religiöse Bedeutung haben. Er wird vielfach als heilig verehrt, ist Ort und Gegenstand von Sagen und Mythen. Seine Vernichtung zielt direkt auf die Identität der in Dersim lebenden oder von dort stammenden Menschen ab. Sie ist die Fortsetzung einer durch zwangsweise Assimilation, Ermordung, Vertreibung, Umbenennung und Vernichtung von Dörfern und Verbot der Sprachen sowie religiöse Diskriminierung geprägten Politik.

In Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung gibt es aktuell nur rudimäntere Ansätze, die im Zuge des EU-Annäherungsprozesses den Anschein eines demokratischen Staates geben sollen. Diese Bemühungen werden meistens aufgrund des starken militärischen Macht-Apparats immer wieder im Keim erstickt. Die Vernichtungsaktion in Dersim ist untrennbar mit der Kurden- Alevitenfrage in der Türkei verbunden, sie ist eingebunden in das nationaltürkische Projekt einer religiösen und ethnischen Homogenisierung der Bevölkerung Anatoliens. Als in Europa lebende Aleviten sollten wir gemeinsam– anlehnend an unsere alevitischen Richtwerte wie z. B. „Aussprache für Gerechtigkeit“ durch unsere organisierte Lobby-Arbeit dazu beitragen, dass die Menschen in Dersim in Frieden und Freiheit ihre kulturelle und philosophische Lebensvielfalt leben und entfalten können und die Kinder eine Zukunftsperspektive bekommen, ohne Gefahr zu laufen, ähnliches wie ihre Eltern und Großeltern erleben und erleiden zu müssen. Insofern sollte es unsere gemeinsame Aufgabe sein Licht auf das dunkelste Kapitel der Türkischen Republik zu bringen und diesen Genozid aktiver an die Welt-Öffentlichkeit zu tragen. Die Verantwortung für die Erinnerung an die Opfer des Dersim-Massakers ist heute uns zum Vermächtnis geworden.

Serdan Ber

Köln´September/2009